Dissertation.6.0

 
 

VORBEMERKUNG (aus der Dissertation von 1982)

In den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zeigen sich in den Arbeiten des Malers

Hans von Marées (1837-1887) im Vergleich mit den Werken vieler Zeitgenossen eine bewusste Strukturierung des Bildaufbaus und eine Reduktion des Formenreichtums. Als erstes Zeichen dieser Neubesinnung können die Wandmalereien angesehen werden, die Marées 1873 für die Deutsche Zoologische Station in Neapel schuf. Der Wille zu einem "architektonischen" Aufbau beherrscht die Bilder. Selbst die Farbgebung, die Licht- und Schattenwirkungen ordnen sich der formalen Gesamtgestaltung unter. Die Erforschung und Darstellung der Beziehung zwischen Figur und dem Naturraum sind für Marées das neue künstlerische Problem. Er meidet das Besondere, den Ausnahmefall, das einmalige Erlebnis; alles Vorübergehende, Zufällige, Unfassbare stößt ihn ab. Marées will das Normale, Natürliche mit dem Allgemeinen, Zeitlosen, Typischen verbinden. Die Reduktion von Form und Inhalt und die bewusste Strukturierung des Bildaufbaus bilden die künstlerischen Mittel, das Darzustellende aus der Wirklichkeitssphäre herauszuheben und den Eindruck des Ewigen, Zeitlosen beim Betrachten seiner Werke zu erwecken.

1866 lernt Marées Conrad Fiedler (1841-1895), seinen späteren Freund und Mäzen, kennen.

1867 kommt Adolf Hildebrand in Begleitung seines Münchener Lehrers Caspar Zumbusch nach Rom. Hier begegnet er Conrad Fiedler und Hans von Marées. In der Diskussion mit Marées erkennen Fiedler und Hildebrand die innere Verwandtschaft ihrer Kunstauffassungen. Die Aus-einandersetzung Hildebrands mit Fiedler in den folgenden Jahren - Fiedler schrieb 1876 den Aufsatz "Über die Beurteilung von Werken der Bildenden Kunst", 1881 die programmatische Schrift "Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit", 1887 "Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit" - hilft Hildebrand bei der theoretischen Ausformung seiner eigenen künstlerischen Überlegungen. 1893 finden diese in der Schrift "Das Problem der Form in der bildenden Kunst" ihre literarische Zusammenfassung.

1875 siedelt Hans von Marées von Florenz - er hat hier seit 1873 mit Hildebrand zusammen gewohnt und gearbeitet - nach Rom über. Es bildet sich um ihn ein kleinerer Kreis von Malern

und Bildhauern; u.a. gehören Carl von Pidoll und Victor zur Helle, Artur Volkmann, Peter

Bruckmann, Louis Tuaillon, und Wilhelm Riedisser zu dem Kreis. Hans von Marées initiiert

in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts über seinen Schülerkreis einen gestalterischen Neubeginn in der deutschen Plastik. Adolf Hildebrand und Artur Volkmann, seine beiden profiliertesten Schüler, tragen diesen Neubeginn.


Zum methodischen Vorgehen

Die Ausführungen Jacob Burckhardts in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ zu dem sozialen und kulturellen Umbruch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Europa bestärkten mich in dem Vorhaben, die Beziehungen zwischen dem kulturell Neuen und dem künstlerisch Neuen nach 1870 zu untersuchen. In Deutschland boten sich dazu das künstlerische Werk und die kunsttheoretischen Überlegungen Hans von Marées, Adolf Hildebrands und Artur Volkmanns an. So ist z. B. der erklärte Verzicht Marées und seiner Schüler auf die Darstellung alles "vordergründig" Historischen Zeichen eines Bruchs mit dem Historismus, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das bürgerliche Denken und das künstlerische Schaffen begleitet und prägt, und er ist zugleich auch Symptom eines neuen Geschichtsverständnisses, das sich auf die sozio-kulturelle Entwicklung bürgerlicher Kunstformen nicht mehr zu berufen braucht.

Die allgemeine Neubesinnung, Neuorientierung nach 1870 wirft die Frage auf, in welcher Weise die Form- und Kunstauffassung Adolf Hildebrands und Artur Volkmanns zu dem sozial, kulturell und ideologisch Neuen in Beziehung gesetzt werden können, in wie weit sich die persönliche Anteilnahme, das persönlich Betroffensein, aber auch die Reaktionen, soweit sie auf das Kunst-schaffen und die Kunsttheorie zurückwirken, in Werk und Theorie nachweisen lassen.

1970 beschreibt Peter Bloch im Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz in den "Anmerkungen zur Berliner Skulptur des 19. Jahrhunderts einen kunstwissenschaftlichen Weg, Kunstwerke zu analysieren und zu deuten. Es heißt dort: "Es muss versucht werden, die Kunstwerke in ihrer zeitgenössischen Funktion zu verstehen; sei es als Produkt eines bestimmten historisch bedingten Künstlers für einen bestimmten, historisch bedingten Auftraggeber, sei es als Darstellung eines bestimmten Menschenbildes in einer bestimmten geistesgeschichtlichen, frömmigkeitsgeschicht-lichen und politischen Situation. So etwa wären Denkmal, Grabmal, Devotionsbild zu befragen, aber auch zeittypische Motive, wie Tänzerin, Kugelspieler, Sandalenbinder, Tierkampf, Allegorien von Wissenschaft und Technik. Die Verzahnung von Naturalismus und Klassizismus wäre auf ihre

geistesgeschichtlichen Hintergründe zu untersuchen, die Wahl antiker Vorbilder von der Archaik bis in die späte Kaiserzeit auf ihre bewussten oder unbewussten Ansprüche. Soll aber das Kunstwerk nicht zur reinen Illustration historischer Prozesse degradiert werden, sondern die Unmittelbarkeit menschlicher Schöpfung - quer zur Zeit - bewahren, so muss es letztes Ziel unserer Betrachtung bleiben. Die Erkenntnis seiner Bedingtheiten ermöglicht die Maßstäbe seiner Qualität (Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Köln/Berlin 1971, S. 184)."

Hauptanliegen dieser Arbeit ist es, die künstlerischen und kunsttheoretischen Positionen - Hans von Marées, Adolf Hildebrands und Artur Volkmanns in diesem Sinn als künstlerische und geistige "Produkte" eines bestimmten, fest umrissenen Zeitabschnitts vorzustellen und die "historische Bedingtheit" des künstlerischen Schaffens, der Form- und Kunstauffassung nachzu- weisen. Das künstlerisch und kunsttheoretisch Eigenständige soll dadurch nicht geschmälert werden, sondern durch eine dialektische Analyse und Interpretation umso plastischer hervortreten.

Eine Kunstwissenschaft, die versucht, das Kunstwerk und die kunsttheoretischen Auffassungen eines Künstlers als soziokulturelle Symbole zu begreifen, muss ein Netz von Beziehungen sichtbar werden lassen, das es umfängt. Erst im Spannungsverhältnis vieler Kräfte offenbart sich das Eigenständige eines Künstlers oder einer Künstlergruppe. Im künstlerischen Werk und in der Kunsttheorie mischen sich die subjektive Gefühlswelt und die objektive Erfahrungswelt des Künstlers, die schöpferische Innovationskraft mit der Tradition, individuelle künstlerische Veranlagung und Vorlieben mit den kulturellen und ästhetischen Normen, die die Gesellschaft als ganze setzt. Kunstwerk und Kunsttheorie stehen für das formale und inhaltliche Anliegen des Künstlers selbst, zugleich können sie die Auffassungen einer Künstlergruppe oder gar die der Avantgarde einer Generation repräsentativ vertreten. Kunstwerk und theoretisches Konzept sind Symbole des Privaten, aber auch des geistesgeschichtlich Allgemeinen, sie können die Rückerinnerung an Historisch-Vergangenes und zugleich Vorausschau auf Utopisch-Zukünftiges einschließen. In Anbetracht dieser Überlegungen wird in den einzelnen Abschnitten und Teilen dieser Arbeit in verschiedenen methodischen Vorgehensweisen, in verschiedenen Lesarten, die Kunst und Kunsttheorie des Marées-Kreises diskutiert und interpretiert. Die soziokulturelle und kunsthistorische Einbettung des Problems der Form wird ebenso versucht wie das Herausarbeiten des Gemeinsamen und des Trennenden in den Auffassungen, des Eigenständigen wie des Teil-nehmens an dem Ideengut der Generation und auch der Bezogenheit bei unterschiedlicher Form- und Kunstauffassung auf die kulturelle Gesamtentwicklung der Kunst im späten 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

 

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