1990/91 hatte die Leitung der VHS-Kreuzberg die Idee, eine kleine Zusatzbroschüre zum regulären Vorlesungsverzeichnis herauszugeben, um den Dozenten eine Möglichkeit zu geben, ihr Lehrangebot zu erklären und zu kommentieren.


Im Herbst 1990 habe ich zu meinem Angebot für das Herbst- und Wintersemester

Kultur und Kunst Alt-Griechenlands, 800 - 200 v. Chr.“  

Folgendes ausgeführt:


„Im Herbst- und Wintersemester biete ich im Bereich Kunstgeschichte

einen Einführungskursus in die Kultur- und Kunstgeschichte Alt-Griechenlands an. Manch ein VHS-Hörer wird denken, warum wird bei all den brennenden sozialen, kulturellen und künstlerischen Fragen der Gegenwart die Vergangenheit zu einem zentralen Kursthema gemacht?

Die Antwort lautet: In den letzten Jahren wurde in meinen Kursen immer wieder die Kunst des 19. Jahrhunderts, die der Klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts und die der Kunst der Gegenwart thematisiert, so dass bei einigen Hörern der Wunsch aufkam, doch wieder einmal zur Antike zurück

zu kehren. Diesem Wunsch will ich mit dem Angebot nachkommen.

Der Themen-Konflikt „Historie“ oder „Gegenwart“ taucht immer wieder auf; der allzu oft geäußerten Forderung nach der Priorität der Gegenwart, möchte ich Folgendes entgegenstellen: Ich glaube, eine zentrale Aufgabe der Vermittlung von Kunst - nach 1968 - ist es, auch auf Fragen der pädago-gischen Intention eines Dozenten nachzugehen. Es wird immer wieder gefragt, was soll im Bereich der Universität oder auch der Erwachsenenbildung mit der Vermittlung von Kunst und Kunstgeschichte erreicht werden. Im Sinne des traditionellen Bildungsideals reichen die Präsentation und die ästhetische Analyse der Kunstwerke aus. Der rezeptive "Genuss" / das Wohlgefallen an der Schönheit der Werke der Bildenden Kunst rechtfertigt durchaus - emotional und rational - weiterhin die Aneignung kunsthistorischer Kennt-nisse. Bezogen auf den oben genannten Kurstitel würde die Vermittlung des Wissensstoffs "versüsst" durch viele Beispiele der Architektur, Skulptur und Malerei. Dem gegenüber wird jedoch im Mittelpunkt des Kurses nicht die Schönheit der Kunst stehen, sondern die Werke, die im Kursus vorgestellt werden, werden als Teil des sozialen und kulturellen Lebens in der Antike gedeutet und interpretiert.

Ich kann viele Hörer - in der Bildungstradition des 19. Jahrhunderts stehend -  gut verstehen, die nur die Präsentation des kunsthistorischen Materials vom Dozenten erwarten, doch sollte eine "zeitgemäße" - moderne pädagogische Tendenzen integrierende - Vermittlung von Kunst doch auch Folgendes berücksichtigen: Ausgehend von der Erfahrung, dass zwischen Dozent und Hörerschaft all zu oft ein Verhältnis besteht, das man mit dem eines Pastors mit seiner Gemeinde vergleichen kann, sollte ein auf eine geistige Emanzipation angelegtes Studium der Kunst dem Kursteilnehmer immer wieder die Historizität der Kunst klar vor Augen führen und ihm auch die Möglichkeit geben, die Werkzeuge des wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens kennen zu lernen. Nicht nur das "Was", sondern auch das "Wie" muss Teil eines Kurskonzepts sein, dass die Zuhörer befähigt, sich - nach einer Zeit des Lernens – von der „Bevormundung“ durch den Dozenten zu befreien. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass auf dem „Wie“ der Schwerpunkt jeder pädagogischen Wissensvermittlung liegen muss, soll dem Auftrag einer zeitgemäßen intellektuellen Weiterbildung Rechnung getragen werden.

Bezogen auf den Kursus „Kultur und Kunst Alt-Griechenlands“ müssen auch    Methoden einer historisch-kritischen Gesellschaftsanalyse vermittelt werden, die die Teilnehmer in die Lage versetzen, sich nicht nur in der Kunst- und Kulturgeschichte Alt-Griechenland, sondern auch in anderen Geschichts-epochen, in anderen sozialen und kulturellen Systemen mit den gleichen wissenschaftlichen Werkzeugen nähern zu können. Wenn dies ein erklärtes pädagogische Ziel ist, dann spielt das Material, das zur wissenschaftlichen Disposition steht - in unserem Fall das Zeitalter der griechischen Antike – nur eine sekundäre Rolle. 


Vom pädagogischen und auch vom kunstwissenschaftlichen Standpunkt

aus ist es durchaus einsehbar, dass kein methodologischer Unterschied zwischen Kursen, die das Vergangene oder das Gegenwärtige behandeln, bestehen soll. Bei der praktischen Hinführung der Hörer - besonders im Bereich der Erwachsenenbildung - zum wissenschaftlichen Denken und Arbeiten ist  eine Betonung des „Wie“ eher zu empfehlen als die weitere Kultivierung des „Was“.“  

                                                                                

                                                                                        Dr. Franz Neckenig